Fundsache - Landmesser in Livland in der Zarenzeit

In einem Bericht aus dem zaristischen Rußland schrieb Jakob Mättik seine Gedanken in einem Tagebuch nieder.

„Ich erfuhr, daß Oberst Tenner sich den Winter über in Riga aufhielt, um Karten zu zeichnen. Ich steckte unsere letzten Rubel ein, legte in aller Eile die zweihundertzwanzig Werst (1 Werst = 1066,78 m) zurück und suchte ihn auf. Er schrieb mir das nötige Papierchen. Dann ging er zum alten Graf Mellin und ließ sich von  ihm eine Empfehlung für mich geben. Danach begab er sich mit mir in die Gouvernements-Verwaltung, legte einige seiner Triangulationen auf den Tisch, behauptete, das wären meine Arbeiten (was sie in gewissem Maße auch waren), und setzte durch, daß ich ein Landmesserzeugnis mit Unterschriften und Siegel erhielt. Für staatliche Aufträge reichte das nach dem russischen Gesetz von 1806 zwar nicht aus, aber dies Gesetz ist in Livland bislang nie angewandt worden, und für Arbeiten am Ort genügte es. …“ schrieb Jakob Mättik in seinem Tagebuch – einem Bericht aus dem zaristischen Rußland 1813 bis etwa 1827, einer Zeit, in der auch dort Gedanken der Bauernbefreiung erwachten.

             Vermessungsgeräte und -instrumente wollte er zunächst „vom alten Winter aus Dorpat, der lange in Rente war“ mieten – einen anständigen Theodoliten, Wimpelstangen, und sogar ein Wagnersches Planimeter – schließlich kaufte er, finanziert aus einem Vorschuß und in Ratenzahlung. Start in den Freien Beruf unter schwierigsten Verhältnissen auch hier.

             Zum geschichtlichen Hintergrund: der russische General Karl Ivanovic von Tenner (1783 – 1859) triangulierte 1817 bis 1832 im Baltikum. An jenen Vermessungen hatte Mättik mitgewirkt. Die bekannte sich anschließende ostpreußische Gradmessung (1832 – 1835) von Friedrich Wilhelm Bessel verband auch auf Tenners Anregung diese russische Kette mit den Dreiecksketten des preußischen Generalstabs.

             Jakob Mättik war Schwager des Adligen Timotheus Eberhard von Bock (1787 - 1836). Dieser hatte dem Zaren Alexander I. (1777 – 1827) seinen Eid geleistet (und entstammte ebenfalls der Familie Romanov). So fühlte er sich ihm doppelt verpflichtet. Er heiratete (als Gutsbesitzer) die Schwester Mättiks, eine Kutschertochter – in damaliger Zeit ein Skandal und ihm widerfuhren erhebliche Anfeindungen. Als er 1818 in einem Memorandum in eindrücklicher Form den monarchischen  Absolutismus und die Leibeigenschaft im damaligen Rußland anprangerte und ein Verfassungsprojekt entwarf, wurde er von der zaristischen Gouvernements-Verwaltung kurzerhand für geistesgestört erklärt und bis 1827 eingekerkert. Die Familie geriet in Armut – und  Schwager Jakob Mättik wurde (siehe oben) mit Tenners Hilfe Landvermesser: Sein oben zitiertes Tagebuch wurde von Helge Viira/Jaan Kross nach Verifikation durch Archiv- und Familienunterlagen 1978/1990 veröffentlicht. Es widerspiegelt die gesellschaftlichen Verhältnisse in Livland (historisch in etwa Südhälfte Estlands), in der damals die russischen Zaren Alexander I. und Nikolai I. (1796 – 1855) Rußland regierten. - Vergl. zu den Verfassungsfragen auch unsere Mitteilungen Nr. 254 und 274

             Quellen: Jaan Kross: Der Verrückte des Zaren – aus dem Estnischen von Helga Viira, Carl Hanser Verlag München Wien 1990 – Titel der Originalausgabe Keisri hull (Tallin 1978); Rudolf Schmidt: Die preußische Dreieckskette vom Rhein über Schlesien nach Memel 1817 – 1834, DGK  Reihe E Heft 29, München 2007: Wolfgang Torge: Geschichte der Geodäsie in Deutschland, 2. Auflage, de Gruyter Berlin New York 2009,

http://de.wikipedia.org/wiki/Timotheus_Eberhard_von_Bock.