Germania und die Insel Thule

Dies ist der Titel eines kürzlich neu erschienenen Buches von Andreas Kleineberg, Christian Marx, Eberhard Knoblauch und Dieter Lelgemann. Der Untertitel umschreibt den wesentlichen Inhalt mit (Die) Entschlüsselung von Ptolemaios’ „Atlas der Oikomene“.

Wie der SPIEGEL berichtete, hat damit  „Eine Gruppe aus Altphilologen, Mathematik-Historikern und Erdvermessern vom Institut für Geodäsie der Technischen Universität Berlin eine verblüffende Landkarte vorgelegt. Sie zeigt Mitteleuropa vor 2000 Jahren.“  Auf 133 Seiten wird das Ergebnis 6-jähriger Forschungsarbeit dokumentiert.

Wesentliche Grundlagen sind die Längen- und Breitenangaben, aufgezeichnet einst von Claudius Ptolemäus (um 100 – um 170) in seiner „Geographie“ mit 6300 Ortsangaben für damalige Städte und topographische Orte, wie Flußmündungen, Vorgebirge, Berge o. ä.. Er stützte sich dabei insbesondere auf das Werk des Marinos von Tyros, eines Geographen des 1./2. Jahrhunderts sowie auf eine Reihe weiterer Quellen, die jedoch als von sehr unterschiedlicher Qualität beurteilt werden. Ptolemaios räumte insbesondere den durch astronomische Beobachtungen gewonnen antiken Koordinaten Vorrang vor anderen Quellen ein. Die Geographie von Ptolemaios ist so eine erste maßstabsgetreue kartographische Darstellung. Die Original-Schriften sind jedoch nicht erhalten, die Forschungen sind auf später entstandenen Abschriften angewiesen.

Die Autoren leiten das Buch ein mit einer quellenkritischen und methodischen Einführung, Die Entzerrung der Ptolemaios-Koordinaten mittels mathematisch-geodätischer Deformationsanalyse wird erläutert, sie wurde realisiert in mehreren Schritten in räumlich unterschiedlichen, jeweils möglichst ähnlichen Transformationsbereichen. Die Ortsnamen-Forschung wurde ergänzend herangezogen. Im Ergebnis resultiert ein Mosaik von plausiblen Verortungen historischer Orte aus der Zeit von vor 2000 Jahren. Sie sind in den vorderen und hinteren Innenspiegeln des Buches in 4 farbigen geographischen Karten dokumentiert und so unmittelbar in die heutige Geographie einzuordnen.

Im Schwerpunkt der textlichen Ergebnisdarstellung steht im 2. Kapitel Germania magna. Nach einer vergleichenden Auflistung der ptolemäischen und der modernen Koordinaten aus den Transformationen folgen ausführliche Punktbeschreibungen und aufschlußreiche Anmerkungen, ergänzt mit zahlreichen Literaturhinweisen. In weiteren Kapiteln folgen in gleicher Weise die Ergebnisse für Gallia Belgica, Germania Inferior, Germania Superior  (insgesamt also im wesentlichen Mitteleuropa) bis schließlich zur Insel Thule.  Sie galt im  Altertum bei den Griechen und Römern als Inbegriff des äußersten Weltendes, so bei der Schiffsreise des Pytheas, wie bei dem römischen Dichter Vergil. Die Autoren meinen, daß es sich bei Thule wahrscheinlich um die Insel Smola vor der norwegischen Küste nahe Trondheim handelt. - 

Ein Index am Schluß des Buches erlaubt den schnellen Zugriff zu den vertiefenden Anmerkungen dieses ungewöhnlichen Werkes. Denn die Autoren haben sich einer Fragestellung angenommen, um deren Lösung sich lange Zeit unzählige Forscher bisher vergeblich bemüht hatten. In einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekt ist jetzt den Berliner Wissenschaftlern in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Geodäten und Wissenschaftshistorikern eine schlüssige Übersetzung der antiken Koordinaten in die heutige Geographie gelungen – sie ermöglichen damit eine reizvolle Neubetrachtung des Weltbilds der Antike. Ein Weihnachtsgeschenk für jeden, der Freude und Interesse an die Fantasie anregenden vorhistorischen Untersuchungen hat.