Kartographie und Imagination

Die klassische Kartographie bildet die Erdoberfläche ab – oder wie Professor Dr.-Ing. Günter Hake vor Jahrzehnten definierte – Kartographie ist Wissenschaft und Technik des Entwurfs, der Herstellung und des Gebrauchs kartographischer Darstellungen und vermittelt raumbezogene Informationen, Geoinformationen – damals insbesondere in Form von Topographischen Karten und Atlanten.

In Herstellung und Präsentation hat sich in der Kartographie in den jüngeren Jahrzehnten durch die digitalen Kommunikationstechniken ein erheblicher Wandel ergeben. Doch darüber hinaus haben auch die Geisteswissenschaften die kartographische Ausdrucksform entdeckt. Jakob Strobel y Serra stellte in der F.A.Z. einen ganz ungewöhnlichen Atlas vor.  Darin nutzt der Künstler Stephan Huber Karten, um im Anschein einer kartographischen Topographie eine neue Wirklichkeit mit tieferen Wahrheiten zu erhellen, durch einkopierte Kollagen, Fragmente von Fotografien, Gemälden, Grafiken, Architekturzeichnungen….Seine Karten von anscheinend neuen und unbekannten Staaten und Erdteilen entpuppen sich als hochkomplexe und detailverliebte ironisierte Bilderwelten. Die „Kantbucht“, der „Freudozean“, die „Darwinsee“ repräsentieren altes Denken – die „Globalisierungsspalte“ leitet über  in Chaos und Beliebigkeit, ein „Hafenareal für überforderte Weltbürger“ gibt ebenfalls Raum zu tiefem Nachdenken. Untertitel der Karten wie „Postodyssee durch literarische und politische  Einflussmeere“, „Große Liebesgeschichten und die ewige Suche nach Glück sowie Neugier und die ewige Suche nach Abenteuern“ sollen den Betrachter verführen, die Karte als Medium der Imagination zu entziffern. Für uns, die wir Entwicklungen aus der Vermessungsgeschichte beobachten und in der klassischen Kartographie  beheimatet sind, entsteht so eine ganz andere und überraschende Weltsicht.

Und doch, schon im Dortmunder Vermessungsmuseum erinnert man sich gerne an den Künstler Peter Michael Hasse, an seine Ausstellung 1997  "Geodäsie in der Kunst", bei uns im Museum für Kunst und Kulturgeschichte, später auch bei den Geodätentagen/der INTERGEO. Er lässt in seinen Kollagen schon seit den 80-iger Jahren aus dem Spannungsfeld von Kunst und Geodäsie ebenfalls eine neue Wirklichkeit  entstehen. In Auswahl: rotweiße Fluchtstangen-Spitzen gefährden und verbinden Nivellier und Plattenkamera, betitelt „Samurai“; eine hintergründige Graphik, kollagiert mit Zeitmesser und Blick aus dem Fenster, meint  die „Verwechslung des Wahren mit dem Exakten“; ein schlanker Ausschnitt eines Risses, gerichtet auf die Sonne in typischer italienischer Landschaft mit einem Theodoliten im Vordergrund  „Toscanische Tachymetrie“; ein Theodolit und Handriss vor knorrigen Weiden als „Anmerkungen zur Horst-Janssen-Idylle“ – dies letztere Kunstwerk erworben 1988 beim Geodätentag in Berlin war jetzt ein Gruß aus dem Nachlaß des geschätzten und 2013 verstorbenen Bremer Kollegen Vermessungsdirektor i. R. Horst Wagner an Ihren Berichterstatter.

Quellen: G. Hake, Kartographie I, Sammlung Göschen bei de Gruyter 1982, Jabob Strobel y Serra „Die Vermessung der Imagination“, Besprechung im F.A.Z. Reiseblatt vom 30. 4. 2015 des „Weltatlas“ von Stephan Huber, Hirmer Verlag, München 2015, 186 Seiten, 49,50 Euro.